Der Beusselkiez während der Coronapandemie / Der Spiegel
Nachdem im Frühjahr das öffentliche Leben lahmgelegt war, kehrt es im Sommer langsam wieder zurück. Kino, auswärts essen, Urlaubtrips – all das ist wieder möglich. Wie Menschen aus dem Berliner Beusselkiez die neue Normalität erleben. (Textauszüge: Yannick Ramsel)
Natalja Petersens Wohnung ist für Fremde tabu, deshalb findet das Treffen mit ihr und ihrem Sohn draußen statt. Ihren echten Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Der Moabiter Himmel hängt grau über dem Hinterhof, die Petersens wohnen in einem mehrstöckigen Mietshaus in einem Seitenarm der Beusselstraße. In ihrer Welt ist jeder Mensch ein potenzieller Virenbote, das war schon vor Corona so. Wegen Michael. Der Neunjährige hat eine seltene Nierenerkrankung, die C3-Glomerulopathie. Durch eine Fehlregulation des Immunsystems lagern sich Eiweißbestandteile in der Niere ab. Um diese Anhäufung abzumildern, bekommt Michael Immunblocker und schluckt Tabletten. Doch wenn das Immunsystem gehemmt wird, kann es auch schlecht Krankheitserreger bekämpfen, zum Beispiel das Coronavirus. Würde er sich damit infizieren, könnte er an den Folgen der Infektion sterben.
Die Zahnärztin Sigrid Weigl, 60, ist eine elegante Frau, ihre Praxis leuchtet in warmem Orange und Gelb. »Oh, oh, oh«, hat sie am Anfang der Coronakrise gedacht. Was eine Pandemie ist, wie sehr es dabei auf Vorbereitung ankommt, hatte sie schon im Studium gelernt. Sie kümmerte sich um Schutzausrüstung. Fuhr zum Baumarkt und besorgte dicke Folie, aus der sie Visiere bastelte. Einem Dentaldepot kaufte sie die letzten FFP-2-Masken ab, als es in Berlin kaum noch welche gab, »für sehr viel Geld«. Handschuhe hatte sie, wie immer, für ein halbes Jahr im Voraus bestellt, damit war sie also versorgt.
Wenn man seine Eingangstür öffnet, ertönt eine schrille Klingel, als wollte Andreas Heinsohn seine Kunden warnen. Achtung, sie betreten das vorige Jahrhundert! In drei riesigen Schaufenstern sind vergilbte Kartons drapiert, den Modellbausatz »C-54D Skymaster«, ein Flugzeug der U. S. Air Forces, Maßstab 1:72, gibt es für 49,99 Euro. Daneben hocken ein paar Plüschhunde im Kunstrasen und blicken hinaus auf die Beusselstraße. Heinsohn sagt, die Verbindung zu seinen treuen Stammkunden habe ihn durch die Krise gebracht, zu seinen »Abonnenten«. Menschen, die ein kleines Fach in seinem Laden haben, in das er Ware legt, wenn die neue Edition eines Modellautos oder Teddybären erscheint. Dort wird sie dann von den »Abonnenten« abgeholt.
Ein paar Hundert Meter nördlich, die Beusselstraße hinauf, wippt Marina Naprushkina, 39, an einem Herbstabend mit dem Fuß. Durch den Shutdown hat sie 40 Prozent der Teilnehmer verloren. Für sie und ihren Kiez, sagt die Gründerin des Moabit Mountain College, sei das eine Katastrophe gewesen. Die Nachbarschaftsinitiative ist ein Lern- und Begegnungsort – mit Kunst, Musik und Literatur, einem Chor, einer Frauengruppe und Sprachstammtischen. Die Teilnahme in den Räumen an der Beusselstraße ist umsonst, viele der Menschen hier sind Flüchtlinge. Naprushkina sagt, ihre Initiative diene vielen Teilnehmern als soziales Netz. Darüber hinaus hätten sie keins. Vor der Pandemie sei in den Räumen an der Beusselstraße das Wasser an den Scheiben herabgelaufen, so voll war es. Seit Corona sind die Räume wie tot, das soziale Netz ist gerissen.